Ralf Baur

Ralf Baur

Besondere Spende ein Vierteljahrhundert nach Fähruntergang der "Jan Heweliusz"


Die Rettungsinsel hüpft auf meterhohen Wellen auf und ab. Orkanböen peitschen eiskalte Gischt gegen die dünnen Seitenwände. 14 Menschen sind im Inneren zusammengepfercht, wo eigentlich nur Platz für zehn ist. Schiffsingenieur Gregory Sudwoj ist froh, einer von ihnen zu sein. Den Kampf gegen den Tod auf der Ostsee gewinnt er am Morgen des 14. Januar 1993: Stundenlang treibt er vor Rügen, bevor er völlig erschöpft in der Messe des Seenotrettungskreuzers ARKONA liegt. Gerettet – als einer von nur neun Überlebenden der untergegangenen polnischen Fähre „Jan Heweliusz“.

25 Jahre später sitzt der 57-Jährige im warmen Konferenzraum seines Schweizer Arbeitsgebers Winterthur Gas & Diesel (WinGD): „Ohne die Seenotretter wäre ich nicht mehr hier. Ich empfinde ihnen gegenüber außerordentlich tiefe Dankbarkeit. Sie haben mir ein zweites Leben geschenkt.“

Sudwojs Erinnerungen lassen erahnen, welche ungeheure physische und psychische Kraft notwendig war, um den Untergang zu überleben. Zum Zeitpunkt der Katastrophe liegt der Schiffsingenieur in seiner Koje – Freischicht. Plötzlich schreckt er hoch: Panik, Hilfeschreie, Todesangst. Die „Jan Heweliusz“ treibt mit starker Schlagseite manövrierunfähig in der Ostsee – bei Windgeschwindigkeiten von mehr als 160 km/h, weit mehr als Orkanstärke.

Luftaufnahme des Seenotrettungskreuzers ARKONA im Einsatz
Seenotrettungskreuzer ARKONA im Einsatz

Feuertaufe für die ARKONA


An Deck sucht Sudwoj ein Rettungsboot. Doch entweder sie sind von der See kaputtgeschlagen oder nicht mehr an ihrem Platz. Er entdeckt eine Rettungsinsel und atmet auf, weil er nicht völlig schutzlos ins drei Grad kalte Wasser springen muss. Wenig später hockt er in der dunklen Enge. Bis zu vier Meter hoch aufgepeitschte Wellen, Regen, Gischt und Dunkelheit erschweren die Suche nach den Überlebenden.

Gegen 5 Uhr läuft der Alarm bei den Seenotrettern auf. Die DGzRS koordiniert den Einsatz deutscher, polnischer und dänischer Seenotrettungskreuzer, Hubschrauber und weiterer Schiffe. Für die kaum ein halbes Jahr alte ARKONA/Station Sassnitz ist es die Feuertaufe – ebenso wie für zwei ihrer Rettungsmänner, die selbst erst kurze Zeit dabei sind. „Wir lagen erst seit 3 Uhr in der Koje, hatten vom Sturm losgerissene Fischkutter eingefangen, das Tochterboot aufgeklart und, und, und“, erinnert sich Andreas Podhola, damals Neuling.

Richtig zur Ruhe kommt er in dieser Orkannacht in seiner Kammer an Bord auch im Hafen nicht. Das Mayday der „Jan Heweliusz“ reißt ihn aus dem Halbschlaf. Wenige Minuten später legt die ARKONA wieder ab – und bekommt bereits kurz vor dem Hafen ordentlich „einen auf die Mütze“.

Seenotrettungskreuzer ARKONA strahlt mit großer Leuchte auf das Meer bei nächtlichem Einsatz
Zwei Seenotretter stehen an Deck des Seenotrettungskreuzers ARKONA und schauen mit Fernglas in die Ferne und geben Funkspruch per Funkhörer ab
Seenotrettungskreuzer ARKONA im Einsatz umgeben von brechenden Wellen
Seenotrettungskreuzer im Einsatz bei starkem Seegang

Spielball der aufgewühlten Ostsee


Die Kraft der Schiffbrüchigen schwindet genauso wie ihr Überlebenswille. Gregory Sudwoj sitzt seit Stunden in der Rettungsinsel. Sie ist ein Spielball im schwarzen Nichts der vom Orkan aufgewühlten Ostsee. Da! Ein Hubschrauber in der Ferne – aber er dreht wieder ab. Dann endlich ein Licht, das sich langsam nähert: „Als ich die ARKONA sah, fühlte ich unglaubliche Energie in mir. Ich dachte: Jetzt oder nie!“, erzählt Gregory Sudwoj mit fester Stimme.

Trotz widrigster Bedingungen gelingt es den Seenotrettern, eine Leinenverbindung herzustellen. Über ein Rettungsnetz an der Bordwand klettert Sudwoj auf die ARKONA. Ein Kollege schafft es bis auf die Bergeplattform am unteren Ende des Netzes. Dann verlassen ihn die Kräfte. Damit die Seenotretter ihn hochziehen können, müssen die anderen in der Insel die Verbindung kappen. Podhola und seinen Kollegen gelingt es mit vereinten Kräften, den zweiten Mann an Bord zu hieven. Dabei verlieren die Seenotretter die Rettungsinsel aus dem Blick. In der aufgewühlten Ostsee entdecken sie sie kein weiteres Mal.

Im Bordhospital versorgen die Seenotretter die völlig Entkräfteten. „Von dem Moment an ging es mir blendend“, sagt Gregory Sudwoj und lächelt. „Ich vertraue den Seenotrettern voll und ganz.“ Für Sudwoj ist es sein zweiter Geburtstag. Gemeinsam mit den Marinefliegern gelingt die Rettung von neun Menschen der „Jan Heweliusz“. Doch für 55 weitere kommt jede Hilfe zu spät.

Auch tief in Andreas Podhola hat sich der Einsatz festgesetzt. „Es ist der dramatischste meiner 27 Dienstjahre“, sagt er. Er hofft, dass es dabei bleibt. In wenigen Wochen geht er in den Ruhestand. „Wir waren fast 48 Stunden auf den Beinen, bis auf die Haut durchnässt und völlig fertig.“ Doch die Erschöpfung merkt er erst im Hafen. Auf See gab es nur einen Fokus: Menschenleben retten.

Spender und Geretteter im selben Boot


Trotz des einschneidenden Erlebnisses fuhr Gregory Sudwoj noch ein paar Jahre zur See. 1997 sah er sich nach einem Job an Land um, der Familie wegen. 2004 landete er in der Schweiz. Dort lernte er Norbert Grote (54) kennen. Sie wurden enge Freunde. Sudwoj verdankt der ARKONA sein Leben. Grote baut seit Jahrzehnten Modelle der Seenotrettungskreuzer: „Ich kann mich sehr gut an das Unglück erinnern. Dank Gregory weiß ich umso mehr, was meine Spende bewirkt.“

Grote ist nicht nur regelmäßiger Förderer, sondern betreut auch das Sammelschiffchen seines Modellbauclubs. Im vergangenen Jahr stand es für einige Wochen auf dem Tresen der Rezeption des Arbeitgebers der Freunde. Sudwoj und Grote hatten zum 25. Jahrestag des Unglücks der „Jan Heweliusz“ die Belegschaft um Spenden gebeten. „Wir gedenken jedes Jahr der Katastrophe und ‚feiern‘ im kleinen Kreis meinen zweiten Geburtstag“, erläutert Sudwoj.

Fast 6.000 Euro spendeten Angestellte und Geschäftsleitungen von WinGD und Wärtsilä Services Switzerland. WinGD entwickelt und vermarktet große Schiffsmotoren, Wärtsilä den Service und Ersatzteile dazu – maritime Unternehmen fern der Küste, in ihren Reihen zwei Kollegen mit ganz besonderer Seenotretter-Geschichte.

Übergabe eines Seenotretter-Sammelschiffchens in einer Halle von Winterthur Gas & Diesel
Enge (Seenotretter-)Freunde: Gregor Sudwoj (r.) mit seinem Kollegen Norbert Grote

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Mit kleinen Spenden Großes schaffen! Jahr für Jahr sind die Seenotretter etwa 2.000 Mal auf Nord- und Ostsee im Einsatz – rund um die Uhr und bei jedem Wetter. Die Seenotretter benötigen dafür modernste Technik und äußerst seetüchtige, besonders leistungsfähige Schiffe, um die Risiken so gering wie möglich zu halten. Wenige Neubauten werden vor ihrer Indienststellung so „auf Herz und Nieren“ getestet wie unsere Rettungseinheiten.

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